Neujahrsblatt 1653

Conrad Meyer
Kämpf wider Dich, so schlahest Mich, 1653
Radierung, 10 x 13,6 cm
Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung
Das Neujahrsblatt auf das Jahr 1653 steht unter dem Titel Kämpf wider Dich, so schlahest Mich und war wie die meisten seiner Art ein Gemeinschaftswerk von Conrad Meyer, der das Bild lieferte, und Johann Wilhelm Simler, der den Text verfasste. Thema ist das innere Ringen eines Menschen mit sich selbst, ein Selbstkampf zwischen Tugend und Trieb, Geist und Körper, wie es in Bild und Text deutlich wird.
Paul Michel beschreibt es in der jüngsten Monographie zu Conrad Meyer folgendermassen: Das «Ungeheür» links im Bild ähnelt der siebenköpfigen Bestie aus der Apokalypse [aus dem Johannesevangelium], der alle Leute ehrerbietig begegnen und auf die «Große Babylon, die Mutter der Hurer und aller Gräuel auf Erden» reitet. Ihre Verlockungen sind Busen, Becher, Beutel, Buch (vielleicht ein weltlicher Roman). Es ist zu vermuten, dass einzelne Tier-Elemente allegorisch auf bestimmte Laster bezogen sind: die mit Pfauenfedern gekrönte Schlange als Allegorie des Hochmuts, der Esel als Allegorie der Trägheit, der Löwe als Allegorie des Zorns, das Schwein für die Unkeuschheit, die Geiss für den Geiz usw. Das Fantasiegebilde ist ebenso faszinierend wie abstossend; heutzutage würde man von Angstvorstellungen des Über-Ichs sprechen, die so projiziert Abwehrmechanismen auslösen sollen. Während im Text der Apokalypse alle Welt dem Scheusal huldigt und die Götzenverehrer das Tier anbeten, setzt Meyer einen gerüsteten Kämpfer dagegen an.
Das Bild des Ritters mitsamt Text bezieht sich auf den Epheserbrief 6, 11–18: «Zieht an die Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels», wo eine allegorische Waffenrüstung des Soldaten Christi geschildert wird: So symbolisieren der Gürtel die Wahrheit, der Panzer die Gerechtigkeit, der Schild den Glauben, der Helm das Heil und das Schwert das Wort Gottes.
Oben rechts in der Ecke wird vorweggenommen, wie der tugendhafte Ritter dann von einem Engel gekrönt werden wird (2. Timotheus 2, 5). Das kleine Bild im Bild rechts ist eine Illustration des Logion von Jesus vom Splitter und vom Balken: «Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?» (Matthäus 7, 3). Es geht also nicht nur darum zu kämpfen, sondern auch um das Erkennen der eigenen Schwächen. Erst so versteht man die Überschrift des Neujahrblatts. Und wenn man genau hinschaut, steht der vom Ankläger bezichtigte Mann mit dem Splitter im Auge vor einem Schweinetrog, eine Anspielung auf den prasserischen verlorenen Sohn (Lukas 15, 11–32), der seine Schwächen erkannt hat und umgekehrt ist. Ein Bild im Bild im Bild.